- Lessings Deutung der Geschichte durch die Religion
- Lessings Deutung der Geschichte durch die ReligionDie Philosophen des 17. Jahrhunderts hatten unter der Forderung einer Beweisführung nach der Methode von EuklidsGeometrie gestanden und daher mit der Betrachtung über Geschichte große Schwierigkeiten gehabt. Da die Geschichte unbeweisbar, nicht aus Prinzipien herzuleiten und experimentell nachzuprüfen ist, hatte Descartes sie aus der Philosophie ausgeschlossen. Bei Spinoza, der die religiösen Schriften im »Theologisch-politischen Traktat« von 1670 geschichtlich erklärte, und Leibniz, der selbst als Historiker arbeitete, fand eine neue Annäherung an das Phänomen Geschichte statt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts beschäftigte der Gedanke der Entstehung der Sprache, des Lebens und der Gesellschaft die Philosophen immer mehr. Bereits Giambattista Vico setzte seine »Neue Wissenschaft« (1725) gegen die unhistorische Philosophie und die geometrische Methode.Auf der Grundlage der gelehrten Studien des vorangegangenen Jahrhunderts begann Montesquieu 1734 Betrachtungen über die »Ursachen der Größe und des Niedergangs der Römer« anzustellen, ehe er sich aus der gesammelten Erfahrung mit dem »Geist der Gesetze« befasste; historische Reflexionen wurden Mode, und in den 1760er-Jahren schrieb fast jeder Autor etwas zur Geschichte und ihrer Philosophie. Gotthold Ephraim Lessing verweigerte sich vielen Moden. Wenn er sich auch zur Geschichte und ihrer Philosophie äußerte, so gebrauchte er schon ganz andere Begriffe, als er 1780 in 100 knappen und rätselhaften Paragraphen von der »Erziehung des Menschengeschlechts« schrieb. Was andere eine Geschichtsphilosophie der Freiheit genannt hätten, verkleidete er, scheinbar orthodox, in den Gang der Vorsehung, die das Menschengeschlecht erst von der Offenbarung und dann von der Vernunft leiten lässt. Dem Begriff der Freiheit misstraute er, sei es in lutherischer Tradition, sei es aus Lebenserfahrung. Aber was sonst »Freiheit« bezeichnete, entwickelte er als Selbstbestimmung der »Vernunft«, die in unendlicher »Vervollkommnung« im »unmerklichen Schritt« erreicht wird.Lessing setzte die geschichtliche Abfolge der Menschengeschlechter parallel zur Lebensgeschichte des Menschen. Was für den Einzelnen die Erziehung ist, das sei für alle die Offenbarung. Mit dem Verweis auf »gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts«, allen voran Joachim von Fiore, ging es ihm um die Überschreitbarkeit der Lehre des Evangeliums: War Moses Gesetz für das sinnliche Kindesalter der Menschheit gedacht und die Lehre Jesu von der Gnade für ihre geistige Reifung, so sei mit zunehmender Vervollkommnung des Menschen ein drittes Zeitalter zu erwarten, das andere ein Reich der Freiheit nannten.Es wäre ungerecht, wenn der Mensch nur einen dieser Zustände erlebte und sich nicht selbst auch, wie alle im Ganzen, weiter vervollkommnen könnte. So spielte Lessing auf den Gedanken der Seelenwanderung an, für ihn die älteste »Hypothese«. Darin ist vieles ketzerisch umspielt. Die Hypothese der Seelenwanderung relativiert die Gültigkeit der christlichen Lehre, wie der Apostel Paulus einst das Gesetz Moses zum »Alten Testament« abschwächte. Die Ungleichheit der Menschen in der Geschichte wird durch die Hypothese aufgehoben und erlaubt dem Einzelnen eine sukzessive Vervollkommnung, die ihm ein einziges Erdenleben nicht gestattet. Das Ganze wiederum ist nicht selbsttätige Entwicklung, sondern »Erziehung«; aber durch wen? Die »ewige Vorsehung« - ist das noch ein persönlicher Gott oder, wie bei Spinoza, die Natur im Ganzen? Lessing beabsichtigte nicht, eine Theorie zu entwerfen, sondern ein Gleichnis. Es sollte nichts erklären, was man als Wahrheit in der Hand halten könnte, sondern tief beunruhigen, die Suche nach der Wahrheit provozieren. Damit ist es ein Instrument wirklicher Aufklärung. Das Bild der Geschichte aber ist doch, anders als das der Frühaufklärung etwa bei Pierre Bayle, kein Gemälde menschlichen Elends mehr. Lessing war optimistisch, dass die Vervollkommung des Menschgeschlechts, ebenso wie die des einzelnen Menschen, möglich sei. Doch setzte er dafür lange Zeitstrecken, wenn nicht »die ganze Ewigkeit«, an.Die Geschichtstheorie bei Vico und Montesquieu hatte ganze Gesellschaften in ihrer historischen Ausprägung im Blick, vorzüglich die römische Rechtsentwicklung oder das Römische Reich. Lessing jedoch sind nicht Institutionen, Rechte und politische Macht wesentlich, sondern die Vervollkommnung des Menschen. Und zwar nicht die einer Gruppe von Auserwählten gegen eine andere der Verworfenen, sondern - als ewige Aufgabe - die Vervollkommnung aller Menschen. Ganz ähnlich deutete Lessing in einer kleinen Schrift mit dem Titel »Leibniz von den ewigen Strafen« die Vorstellung von Himmel und Hölle erzieherisch und im Rahmen der Ewigkeit: Die Strafen folgen aus den Taten, ewig, aber sich verringernd, und möglicherweise bessern sie den Menschen und mit ihm die Menschheit, indem ein jeder »seine Hölle noch im Himmel, und seinen Himmel noch in der Hölle finden« wird. Lessingvermochte die Geschichte unter dem Gesichtspunkt der inneren religiösen Entwicklung anzuschauen. Mit diesem Bild hob er jeden Ausschließlichkeitsanspruch bestimmter Religionen aus den Angeln.In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich schließlich zwei einander ergänzende Auffassungen der Geschichte herausgebildet: einmal die ethnologische und anthropologische »Geschichte der Menschheit«, die das Gemeinsame menschlicher Kultur auch bei den fernen und frühen Völkern aufsuchte, und daneben »Weltgeschichte« mit der Auffassung, die die Blütezeiten politischer Macht und kultureller Entfaltung betonte, wobei sie aber den Blick mehr und mehr von den »Staatsaktionen« auf die bleibenden Schöpfungen der Künste und des Geistes richtete. In Deutschland stand Herder für das in die Ferne und Frühzeit ausgreifende Nachdenken über die Geschichte, während unter dem Einfluss Voltaires etwa Wielands historischer Blick den Blütezeiten nachhing. Goethe sollte einer der wenigen sein, die in ihrem künstlerischen Schaffen und ihren Studien beides fruchtbar zu verbinden vermochten.Prof. Dr. Horst Günther
Universal-Lexikon. 2012.